Samstag, 30. März 2013

POLITIK -WIR HABEN EINE KRISE DER VERNUNFT







Frank Schirrmacher gehört zu den wichtigsten deutschen Vordenkern. Er sagt, die Wirtschaftskrise habe zu einem Zustand der Dauerbedrohung geführt. Trotzdem hat er Hoffnung.

Herr Schirrmacher, Sie schreiben, die Eurokrise sei nicht ein vorübergehendes Problem. Es gehe um mehr. Um was geht es?
Die Krise ist Ausdruck von etwas sehr Grundsätzlichem. In der Zeit davor wurde die Wirtschaftswissenschaft als positive Wissenschaft verkauft, als rationales System. Dann kam die Krise, und es wurde immer deutlicher: Diese ist längst nicht mehr nur eine Krise der Wirtschaft, sondern eine Krise der Rationalität. Wir haben eine Krise der Vernunft. Es ist so, als merkten wir plötzlich, dass das System der Physik nicht mehr funktioniert. Dass uns die Antwort auf die Frage schwerfällt, was moralisch ist und was nicht – das ist nicht unser grösstes Problem. Gravierender ist, dass wir nicht mehr wissen, was vernünftig ist und was nicht. Es war nicht irgendein Feuilletonist, der vor dem amerikanischen Kongress gesagt hat: «Das gesamte Denkgebäude ist zusammengebrochen.» Das war immerhin Alan Greenspan.

Wir leben in der Epoche des grossen Zusammenbruchs?
Wir leben heute ständig in einer Situation der absoluten Drohung: Es droht das Ende des Euro; es droht der Kollaps des Finanzsektors. Das hat es – wenn man an die 80er- oder 90er-Jahre denkt – in dieser Frequenz nie gegeben.
Mit welchen Folgen?
Dieses Denken produziert einen Satz, den wir alle kennen: «Es gibt keine Alternative.» Das bedeutet eine weitere Radikalisierung. Es ist kein Zufall, dass wir seit Ausbruch der Krise eine Inflation von Nuklearmetaphern haben, von der «finanziellen Kernschmelze» bis zu den «Massenvernichtungswaffen der Börsen». Da kommen wir schnell zum Modell des Kalten Krieges.
Wir leben in einer Neuauflage des Kalten Krieges?
Im Kalten Krieg gab es erstmals in der Weltgeschichte eine absolute Bedrohung. Mit dieser Bedrohung war das Wissen verbunden: Zwar können wir den Gegner vernichten, doch er hat immer noch die Möglichkeit, uns auch zu vernichten. Sieht man sich nun die internen E-Mails der Investmentbank Lehman an, so erinnern diese stark an die Denkbilder des Kalten Krieges. Die Banker dachten: «Uns kann gar nichts passieren, weil, wenn uns was passiert, werden die anderen ja auch vernichtet.» Auch bei der Griechenland- und Zypernrettung stand die absolute Drohung im Raum. Da kommt dann die Botschaft aus Brüssel: «Wenn Ihr nicht kooperiert, gehen wir alle unter.» Solche Konstellationen sind auch deshalb problematisch, weil sie die Demokratie schwächen.

Warum?
Die Eurokrise ist mit einer massiven Entdemokratisierung und einem erheblichen Souveränitätsverlust verbunden. Bei uns in Deutschland musste mehrmals das Bundesverfassungsgericht einschreiten und dafür sorgen, dass das Parlament nicht übergangen wird. Oder denken Sie an die negativen Reaktionen auf den Vorschlag des früheren griechischen Ministerpräsidenten, der sein Volk über das Eurorettungspaket abstimmen lassen wollte.
Die Schweizer haben allerdings vor kurzem per Volksabstimmung Massnahmen gegen die Abzockerei beschlossen.
Das widerspricht meinen Ausführungen nicht.
Ein demokratischer, rationaler Aufstand gegen die Wirtschaftselite ist doch exakt die Antithese zu dem, was Sie sagen. Sie sprechen von einer Gesellschaft, die erstens in einer tiefen Krise der Rationalität steckt und die zweitens aus einem Heer von Egoisten besteht.
Ich sehe keinen Widerspruch. Es wäre ja schlimm, wenn das, was ich beschreibe, der Endpunkt wäre. Eine Gesellschaft funktioniert dialektisch, sie lernt dazu. Und reagiert folglich allergisch, wenn die Managergehälter ins Absurde steigen. Ich begrüsse die Debatte in der Schweiz sehr, weil sie wegführt von der rein moralischen Diskussion, mit der wir jetzt viele Jahre vergeudet haben.
Das müssen Sie uns erklären.
Es ist immer cool zu sagen: «Die verdienen zu viel, guckt euch diese Schweine an.» Aber gebracht hat diese emotionale Stigmatisierung überhaupt nichts. Die Reaktion in der Schweiz ist anders, nämlich ganz rational. Und sie steht nicht im Widerspruch zu meiner These, sondern zeigt den nächsten Schritt. Wir erleben überall, dass durch die Krise der Rationalität Überzeugungen, die bisher galten, infrage gestellt werden – und neue Überzeugungen an Kraft gewinnen.
Für Sie ist die Abstimmung in der Schweiz ein Hoffnungsschimmer – ein Indiz, dass die Krise der Vernunft überwindbar sein könnte?
Ja, man muss aber berücksichtigen: In der Schweiz haben Plebiszite Tradition, bei uns in Deutschland nicht. Und sie wären hier ein riskanter Weg. Man weiss nicht, was herauskäme, wenn wir über den Euro abstimmen würden. Mir würde es schon reichen, wenn das Parlament stärker mitreden könnte. Aber ich will noch etwas zum Recht sagen.
Bitte.
Im Neoliberalismus interessiert vor allem eines: die Präferenz des Menschen: Will er heute ein Eis? Und was will er morgen? Das Ziel ist, Präferenzen zu schaffen, Präferenzen vorauszuahnen und Präferenzen zu befriedigen. Wenn man aber sagt: Alles, was zählt, ist die Präferenz – dann wird es gefährlich. Dann droht, dass man das Recht relativiert, wenn es nicht zu den Präferenzen gehört. Dabei ist ganz wichtig, dass bestimmte Rechtsgüter – Gleichberechtigung, Selbstbestimmung ... – unangefochten gelten, selbst wenn sie niemand will. Die Eurokrise hat uns da auf einen heiklen Weg geführt. Da mache ich auch der Bundesregierung Vorwürfe. Diese merkwürdige, überschüssige Reaktion auf die Schweiz, zeigt doch auch: Wenn Sie selber den moralischen Boden verloren haben, müssen Sie jemand anders noch amoralischer machen.
Sie haben Frau Merkel als oberste Spieltheoretikerin des Landes bezeichnet. Wie meinen Sie das?
Die Physikerin hat ein paar spieltheoretische Prinzipien verinnerlicht. Erstens: Denke vom anderen immer, dass er dich über den Tisch ziehen will. Zweitens: Rede nicht, lege dich nicht fest. Und drittens: Das ganze Spiel kannst du nur mit Bluffs spielen.
Immerhin hat sie Deutschland bisher einigermassen unbeschadet durch die Eurokrise gesteuert. Wenn Sie auf den Chip in der Mitte des Pokertisches schauen, sieht es für Merkel nicht schlecht aus. Das System ist stabil, wir Deutschen haben zwar viel Geld aufgeworfen, sind dafür aber nicht pleitegegangen. Aus einer anderen Perspektive betrachtet, sieht man allerdings: Der Preis für Merkels Strategie ist riesig. Deutschland zahlt und zahlt und zahlt – und wird gehasst. Wir werden wieder als Nazis beschimpft.

Wie kommt das?
Diese Paradoxie ist nur dadurch zu erklären, dass man nicht die Wahrheit sagt. Aus Rücksicht auf ihre eigenen Wähler versäumt es Merkel zu sagen, was das Ganze für einen Zweck hat. Richtig wäre aus meiner Sicht: ehrlich sein und eine Utopie entwickeln. Die Kanzlerin könnte sagen: «Das Geld ist zwar weg, aber dafür bekommen wir etwas: ein starkes Europa.»
Sie sehen die Welt im Zeitalter des Ökonomismus, wo das Ego-Interesse über allem anderen steht. Das heisst, die Menschen heute sind schlechter, als sie früher waren?
Nein, das sind sie nicht. Nach wie vor besitzen die Menschen Intuition – diese sagt ihnen, was gut ist und was nicht. Ich würde nie behaupten, in der heutigen Gesellschaft gebe es mehr Egoismus. Aber wir haben eine Gesellschaft mit einem neuen Imperativ. Und der heisst: Es ist vernünftig, egoistisch zu sein. Es ist etwas völlig anderes, ob Sie sagen: Wir sind Egoisten. Oder ob sie als Maxime ausgeben: Es ist rational, egoistisch zu sein. Eine solche Maxime ist philosophiegeschichtlich eine Zäsur, weil wir in Europa doch stark von Immanuel Kant und seinem Satz geprägt sind: «Handle stets so, dass dein Handeln zur Gesetzgebung für alle werden könnte.»
Der neue Leitsatz stammt von Thomas Hobbes ...
... ja: «Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.» Aus Studien wissen wir: Wenn in einer Gesellschaft egoistisches Verhalten als vernünftig erklärt wird, wird es beim Menschen geradezu erweckt. Das Modell des «homo oeconomicus» produziert Soziopathen. Es wird heute von den Menschen ein Verhalten verlangt, das sie selber nicht gut finden.
Dann sind die Menschen also doch schlechter geworden.
Nein, solange sie merken, was vor sich geht, werden sie nicht schlechter. Das Schweizer Plebiszit gegen zu hohe Managerlöhne belegt dies: Die Leute haben realisiert, dass es so nicht weitergehen kann – und haben gehandelt. Der Mensch ist vielschichtiger, als das Modell sagt. Das Problem ist, dass wir immer stärker Systemen ausgesetzt sind, die den Menschen auf einen Automaten reduzieren – auf seine Präferenzen.
Was schlagen Sie vor?
Man muss den Menschen vermitteln, dass sie ihre Intuition ernst nehmen. Das Problem ist ja nicht, dass wir zu grosse Risiken eingehen. Das Problem ist, dass wir alles risikolos machen wollen. Darum sind wir ja so versessen auf die angeblich superpräzisen Modelle der Statistiker. Zur Finanzkrise ist es nicht gekommen, weil Vorkehrungen zur Risikoabwehr gefehlt hätten. Im Gegenteil, solche gab es in Fülle. Der Fehler war, dass man ihnen blind vertraut und nicht auf die Intuition gehört hat.
Wir müssen lernen, bewusst Risiken einzugehen und zu tragen?
Ja, und dazu gehören Transparenz, Ehrlichkeit und Selbstvertrauen. Unsere Aufgabe ist, unsere Prägung zu verlernen. Nichts gegen den Konsum, den Markt oder das Internet – solange wir davon nicht gesteuert werden.